13.07.2016

Der Weg zurück

Lo Manthang ist der Umkehrpunkt. Jetzt geht es wieder zurück, weg von Tibet, zurück in die Zivilisation. Dieses mal gehen wir einen anderen Weg. Die Pässe sind etwas höher, aber lange nicht "hoch". Bald habe ich den höchsten Punkt der Reise erreicht, 4320m. Ein bisschen windig. Auf dem Weg heraus aus der kleinen Welt in Lo Manthang, verfolgen uns ein paar wilde Hunde. Ich bin ganz froh, als sie irgendwann abdrehen und scheinbar nicht mehr an mir interessiert sind. Von einem Rudel wilder Hunde, möchte ich hier nämlich nicht angegriffen werden. 

Mittags liegt das Kloster von Ghar Gompa auf dem Weg. Hier leben ein paar Mönche, die hungrigen Touristen gerne ein Mittagessen zubereiten. Instantnudeln, gebraten mit ein bisschen Gemüse. Bei meinem Hunger schmeckt es köstlich! Der Küchenmönch findet, dass ich hungrig aussehe, und kocht extra für mich guten tibetischen Buttertee. Vielen Dank... Ich nippe ganz, ganz vorsichtig daran. Das Stinkesocken-Aroma gehört nicht zu meinen Favoriten. Zum Glück kann ich mich daran erinnern, dass ich die Tasse nie mehr als halbleer trinken sollte, um ein Nachschenken zu verhindern. Hat geklappt. Der Rest meines Tees stellt der Mönch den Vögeln hin. Die sind ganz wild drauf und stürzen sich auf die Schüssel.

Das Kloster sieht etwas verlassen aus, der Gebetsraum ist dunkel und kalt. Der Mönch erklärt mir, dass ein Teil des Klosters in einer alten Höhle liegt. Der Gebetsraum geht daher über 3 Etagen von der Eingangstür nach innen in den Berg hinein.
Der Legende nach, soll dieses Kloster zur Verteidigung gegen die Geister und Drachen gebaut. Offenbar mit Erfolg, denn ich habe bisher noch keine Geister und Drachen gesehen und ganz in der Nähe, in Dhakmar, ist das Kliff rot gefärbt vom Blut des Drachens.  Genau in diesem drachenblutroten Ort, ist das Hotel für heute Nacht. Der Ort ist klein und Touristen kommen zumindest jetzt nicht regelmäßig hierher. Es dauert ein bisschen, bis eine Hotelbesitzerin kommt und eines der Hotels aufschließt.

Ich mache noch einen kleinen Spaziergang durch den Ort. Das rote Kliff leuchtet intensiv, der Staub färbt auch meine Schuhe und meine Hose. Es ist ziemlich kühl, die Sonne hat sich hinter ein paar Wolken versteckt und ich freue mich auf ein warmes Mittagessen. Mein Magen hängt schon wieder in den Kniekehlen. Nach dem Essen, krieche ich schnell in den Schlafsack. Alles ist etwas klamm. Das Dach besteht aus dünnen Plastik-Wellblechen mit eingearbeitetem Belüftungssystem. Ich bin nicht traurig, als wir am nächsten Morgen nach dem Frühstück schnell aufbrechen.

Nach der Nacht in Dhakmar kreuzt der neue Weg den alten. Zum ersten mal auf dem Rückweg taucht Nilgiri wieder am Himmel auf. Sind wir jetzt so dicht wieder am Anfang bzw Ende der Reise? Am Vormittag treffen wir 3 Jungs. Den ältesten schätze ich auf 14, den jüngsten auf vielleicht 8 Jahre. Viel Gepäck haben sie nicht. Zusammen einen kleinen Rucksack und eine Plastiktüte. Und eine gemeinsame Flasche mit Selbstgebranntem. Die 3 laufen in zu großen Plastiklatschen und ich erfahre, dass sie hier gearbeitet haben. Jetzt sind sie auf dem Weg nach Hause, bis Jomsom müssen sie laufen, danach können sie einen Bus nehmen, der sie dann in 3-4 Tagen an die indische Grenze bringt. Ich weiß nicht, was ich zuerst denken oder tun soll. In mir entsteht eine Mischung aus Verzweiflung, Wut und dem Gefühl, die Kinder retten zu wollen. Die Kinder sind von ihren - sicherlich verzweifelten - Eltern in die Sklaverei verkauft worden. Die Familie hier, hat Kindersklaven aufgenommen... Was ist das nur für eine Welt? Dass die drei ihre Situation nicht ertragen können und sich deswegen betäuben, kann ich irgendwie verstehen. Aber... Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich stehe hier mit 3 Kindern, die eigentlich zur Schule gehen sollten, lesen und schreiben lernen und in den Pausen mit anderen Kinder toben. Stattdessen torkeln sie vormittags, vor dem eigenen Leben geflüchtet, auf dem langen Weg durch die Wüste. Das war mal wieder ein Bauchklatscher in die Realität.
 Gegen Mittag habe ich mich wieder einigermaßen gefangen und kann den Ausblick auf die längste Manimauer der Welt aus einer ganz anderen Perspektive genießen. Die Dörfer sehen aus wie grüne Inseln in einem lehmfarbenen Ozean. Was Wasser nicht alles kann. So was unscheinbares wie Wasser, kann die lebensfeindliche Wüste in einen lebendigen Lebensraum verwandeln. 
Am nächsten Tag steht noch ein Highlight auf dem Programm. Das Kloster mit dem Einsiedler. Als wir losgehen, liegt noch schwerer Nebel in den Tälern. Tiefer und tiefer geht es in die Schlucht hinein. Bergab natürlich. Nach einer guten Stunden biegen wir rechts ab und klettern eine steile Treppe hoch. Bald entdecke ich ein Meer aus Gebetsfahnen und -schals. Eine ganz unscheinbare Höhle von außen. Der Mönch, der hier wohnt, kommt vor die Tür und lädt mich ein, durch seine Höhle zu gehen. Das Herzstück bildet ein merkwürdiges anmutendes Gebilde, was mir als Stupa erklärt wird. Eine Kombination aus Stalagmit und Stalagtit  -Tropfsteine, die sich in der Mitte getroffen haben und zu einer Einheit verschmolzen sind. Überall stehen Figuren, es hängen Schals und bunte Gebetsfahnen, Öllampen und andere Gaben. Ich bin fasziniert. Noch faszinierter bin ich, als der Mönch mich einlädt, mich hinzusetzen und einen Tee mit ihm zu trinken. Er erzählt von seiner Pilgerreise und seinen Meditationsübungen. Er hat die Bibel gelesen, den Koran und kann die tibetischen Schriften auswendig. Sein Englisch ist einwandfrei, daneben spricht er auch noch tibetisch, nepali, französisch und chinesisch. Seit einigen Jahren lebt er alleine in dieser Höhle, mindestens 1,5 Stunden von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt. Er ist komplett auf die Geschenke von anderen angewiesen. Und die scheint er zu bekommen. Die Öllampen brennen und er erzählt stolz, dass er jeden Tag etwas zu essen hat. Und wieder einmal keimt in mir dieses Gefühl von Dankbarkeit und Demut. Dieser deutlich gebildete Mann in meinem Alter lebt hier, ganz alleine. Tagein, tagaus. Er ist belesen, kann viele Sprachen und ist trotzdem - oder deswegen? mit einem absoluten Minimum zufrieden. Jeden Tag, etwas zu essen, Zeit zum beten und meditieren und Gottvertrauen, das ist alles, was er zum Leben braucht.
Noch ganz erfüllt von der Begegnung geht es weiter durch die Schlucht. Irgendwann geht es wieder bergauf. Langsam habe ich richtig Hunger, der Berg will aber kein Ende nehmen. 10 Schritte und tief durchatmen. Wieder 10 Schritte. Ich habe Hunger wie eine ganze Herde Wölfe am Ende des Winters. Endlich bin ich oben und sehe schon das Dorf, wo es Mittagessen geben soll. Es sieht gar nicht so weit aus. Tja, zu früh gefreut. Es sind noch 2 Flusstäler, die auf dem Weg liegen. Gefühlt sind es Stunden und ich hätte fast den Boden (oder besser den Tisch) geküsst, als ich endlich in der Küche des Guesthouse sitze und den Reistopf zischen höre. Ich esse 2 Portionen, von der jede eine durchschnittliche 4-köpfige Familie satt gemacht hätte. Jetzt bin ich zumindest ein bisschen gestärkt und kann weiter gehen. Ab jetzt ist der Weg der gleiche wie auf dem Hinweg. Jetzt heißt es Abschied nehmen von Mustang, dem mythischen Königreich, dem Tibet außerhalb von Tibet. Gerne wäre ich länger geblieben, hätte gerne mehr gesehen, gerochen, geschmeckt und erlebt. Aber auch so bin ich dankbar und ein bisschen zufrieden und das obwohl ich die Wüste jetzt wieder verlassen werde.