10.09.2015

In einem schwarzen Lada übers Land

Nach dem mir unverständlichen Ausflug nach Dilijan, weiter nach Tsaghkashen. Während Yerevan doch sehr westlich und modern war, ist in diesem Örtchen die Zeit stehen geblieben. Zumindest teilweise. Da die Winter hier auf über 2000m Höhe doch recht kühl werden können und die Häuser nur suboptimal isoliert sind, brauchen die Leute andere Heizmaterial. Kuhfladen eignen sich ja hervorragend dafür. Also gibt es vor jedem Haus aufgetürmte, getrocknete Kuhfladen. Der Strom, der durch die eine oder andere Wasserkraftanlage gewonnen wird, scheint ausnahmslos für die großen Nachbarn im Norden bestimmt zu sein. Die Gasleitungen laufen hier oberirdisch und machen alle paar Meter mal einen Bogen nach oben. Sieht ein bisschen speziell aus, aber scheint gewollt zu sein.
Bevor wir im Dorf Tsaghkashen ankommen, machen wir, im Nieselregen, einen Stopp auf dem größten Kreuzsteinfriedhof der Welt. Hier gibt es ca 900 Kreuzsteine oder Chatschkare, auf armenisch. Alte und neue, kunstvoll verzierte und weniger filigran geschmückte. Die kleinen wiegenförmigen Steine sollen Kindergräber sein. Ganz schön viele. Mmmh. Chatschkare sind nicht nur Grabstein sondern auch Erinnerungsstein. Sie können daran bzw an denjenigen, erinnern, der hier eine große Spende gespendet hat. Oder an einen militärischen Sieg. Oder daran, dass hier eine Brücke, Straße, Kirche fertiggestellt wurde. Beeindruckend sind diese Chatschkare auf jeden Fall. Es sind zum Teil große (2-3m hohe) oder kleine Steine, die als zentrales Symbol ein Kreuz haben. Der Rest des Steins ist vollkommen mit verschlungenen Mustern bedeckt, die Muster bestehen aus Weintrauben, Ranken, Tieren oder auch abstrakten Knotenmustern. Die neueren Steine haben oft eine Art Krone über dem Kreuz.
Leider hat Samuel nicht viel zu den Steinen zu erzählen und ich muss mir das meiste selber erlesen und zusammensuchen. Bezaubert von den filigranen Mustern der Steine und etwas enttäuscht von mangelnden Wissen meines Guides geht es weiter nach Tsaghkashen.
Wir werden herzlich empfangen und reichlich bewirtet. Pflaumen, Weintrauben und Äpfel aus dem Garten, dazu Unmengen an Keksen und Süßigkeiten. Auch wenn das Haus nicht so ganz unseren Standards entspricht, ist es doch gemütlich. Nur eben ein bisschen anders. Zentraler Raum im Haus ist - wie sollte es auch anders sein - die Küche. Die Einrichtung hat ihren ganz speziellen Charme. Nicht mein Stil, aber ich soll ja auch nicht da wohnen.
Nach der Teepause, ziehen wir los. Ein kleiner Spaziergang zu einer Wasserquelle. Die Landschaft ist plötzlich grün geworden. Seichte, grasbewachsene Hügel, dahinter ein paar höhere Berge. Wir laufen, wieder mal querfeldein, durch die Gegend, vorbei an Sommerhäusern von Kuh- und Schafhirten und immer wieder bergauf und bergab. Es regnet, neeeeiinnn, bitte nicht. Ich mag doch nicht im Regen laufen. Hört zum Glück schnell wieder auf. Um zu gucken, wie es hinter mir aussieht, drehe ich mich kurz um. Jetzt weiß ich, warum es auch mal regnen muss. Sonst hätte ich wohl diesen Regenbogen nie gesehen. Ein richtig schöner Bogen. Sogar ein doppelter Regenbogen und bei genauem Hinsehen hat er noch einen kleinen Nebenregenbogen. Da hat sich das Nass-werden gelohnt. Weiter bergauf. Eher psychisch anstrengend als physisch. Und irgendwann sind wir an der Quelle. Nun ja, da ist ein kleines Loch im Boden und da kommt Wasser raus. Ist ja ganz hübsch und wenn ich hier eh vorbeigekommen wäre, hätte ich auch sicher angehalten. Aber extra hierher zu gehen? Bestimmt kein 2. mal. Ohne lange zu zögern oder dem Augenblick hinterher zu hängen, drehen wir um und gehen zurück. Auf halber Strecke, also nach ca 1,5 Stunden, kommen wir wieder zu den Sommerhäusern. Vor einem der Verschläge spielen ein paar Kinder. Die Eltern kommen heraus und laden uns auf einen Kaffee und Vodka ein. Nicht gerade die Modernste und winddichteste Unterkunft. Aber wahrscheinlich genug für den armenischen Sommer. Oder? Ich weiß nicht. Festgetrampelter Lehmboden, ein paar Steine übereinander, ein bisschen Wellblech. Das ist das Haus. Sofort werden Lavash, Butter und Kekse auf den Tisch gestellt. Dazu Kaffee, Tee und Vodka. Und ich werde aufgefordert zu essen und zu trinken. Das Lavash ist nicht aus dem Supermarkt, das ist selbst gebacken. Genau wie die Butter. Die ist auch nicht gekauft, sondern stammt von den Kühen hier. Sehr, sehr lecker.
Die Hirten leben in den Sommermonaten hier draußen und passen auf, dass keiner ihre Kühe klaut. Leider kommt das immer wieder vor, dass Kühe oder Schafe verschwinden, deswegen muss immer jemand in der Nähe sein. Von Herbst bis ins Frühjahr, leben die Menschen in Dörfern in der Nähe und haben ihre Tiere dort im Stall. Ein ganz anderes Leben als meins. Ich möchte nicht tauschen.

Der nächste Morgen beginnt früh. Ich wollte ja gerne den Sonnenaufgang von unterwegs erleben. Leider kommen wir nicht rechtzeitig los, so dass es schon dämmert, als wir das Haus verlassen. Still schläft das Dorf als wir zwischen den Häusern entlang gehen. Bald geht es bergauf. Ein guter Treckerpfad, kein Matsch, keine Wurzeln, keine Stufen. Angenehm zu gehen. Die Sonne kriecht schnell über den Horizont und lässt den Himmel blau und die Wiese grün leuchten. Schön, so darf es bleiben. Auch hier werden wir von den Hirten sofort eingeladen. Es ist früh am morgen und ich möchte auf gar keinen Fall Vodka. Hilft nicht, ich bekomme welchen eingeschenkt. Seit gestern weiß ich ja, dass es funktioniert nur am Vodka zu nippen und so zu tun, als würde man trinken. Und wieder Lavash, Butter und Kekse. Verhungern werde ich hier wohl nicht. Der Oberhirte will mir noch seine Hunde zeigen. Behutsam zieht er 3 kleine Welpen aus einer Hundehütte. Die Hundemutter ist etwas skeptisch, lässt sich aber durch ein paar Streicheleinheiten schnell beruhigen. Die Hundebabys sind 11 Tage alt. Noch haben sie nicht mal die Augen auf. Tapsig und unbeholfen kriechen sie übereinander, bevor sie zurück in ihr Zuhause gesetzt werden. Ich glaube, die haben es gut hier.

Der Weg führt uns weiter nach oben. Nach 6 Stunden mag ich eigentlich nicht mehr. Jetzt ist es nur noch ein kleines Stück auf dem Bergrücken, bis zum Gipfel. Der Sand ist weich und gibt nach. Ganz plötzlich hat sich die grüne Graslandschaft in eine rot-schwarze Lavawüste verwandelt. Jedes mal wieder bin ich fasziniert von dem, was das Innere der Erde hervorbringt. Vulkane sind etwas unglaublich spannendes. Auf dem Gipfel angekommen, wird mit Tee und Keksen gefeiert. 360° Panoramaaussicht, hier und da ein kleiner See, die unterschiedlichsten Farben der umliegenden Berge und da, mitten im Nichts, auf dem Gipfel des Azhdahak-Berges, 3597m hoch, haben die Menschen eine Kapelle geschaffen. Ein Kreuz, ein paar Kerzen und einige Ikonen stehen windgeschützt in einem Verschlag. Irgendwie eine schöne Idee, hier oben so eine Art "Ort der Einkehr" zu haben. Nach der verdienten Pause geht es den bergab. Ein bisschen Regen, Schnee und Hagel sagen kurz Hallo und dann schnell wieder Tschüss. Abendessen - heute Suppe und Bratkartoffeln, dazu Lavash, Käse, Tomaten, Paprika, Gurke und Sucuk und dann schlummere ich auch schon. 13 Stunden draußen sein, 1500 Höhenmeter und alle nur erdenklichen Wetterlagen, machen müde.

Der Weg führt weiter nach Süden. An strategisch wichtigen Orten, sitzen immer Leute, die Obst, Honig, Nüsse und weitere Kleinigkeiten verkaufen. Gegen Mittag, sagt Samuel, sind wir an einem alten Hotel. Seidenstraßen solche "Karawansereien" oder eben auf neudeutsch, Hotel. Ein langer Raum mit Nischen für Mensch und Tier. Die letzten paar Tausend Jahre, ist es nur noch als Hotel und Fledermaus-schlafzimmer genutzt worden. Zumindest ist diese Unterkunft sehr idyllisch gelegen mit Blick über das Tal und im Hintergrund höhere Berge. Nach einem Picknick, steigen wir ins Auto, weil das nächste Ziel ein paar Stunden entfernt ist. Nach einer entspannten Fahrt sind wir an einem großen und sehr modernen Parkplatz. Neben armenischen, sind viele iranische Autos hier geparkt. Die Grenze zum Iran ist nicht weit und für Iraner ist Armenien ein beliebtes Urlaubsziel. Als wir an dem Hotel sind, bin ich etwas überrascht. Das sogenannte Hotel ist wirklich sehr alt. Es hat den Händlern, die die Seidenstraße gewandert sind. Laut der Infotafel gab es entlang der ganzen
Gleich hinter dem Parkplatz ist die längste Seilbahn der Welt. Über 5km geht die Fahrt über eine Schlucht zum sagenumwobenen Kloster von Tatev. Die Fahrt ist durchaus touristisch mit musikalischer Untermalung und Erklärungen zu dem was unter uns zu sehen ist. Und das gleich in verschiedenen Sprachen. Ein bisschen wie die Touristenfähre nach Geiranger. Am Kloster angekommen, bin ich enttäuscht von Samuels Nicht-Wissen. Ich suche mir meine Information so gut es geht, selber zusammen. Die alte Ölpresse ist nach fast schon skandinavischen Standards erklärt. Schlicht und erklärend ausgestellt, nicht überfrachtet und trotzdem so lebendig, dass ich mir vorstellen kann, wie das Leben hier vor 4000 Jahren war.

Das Kloster ist wieder ein riesiger Komplex, der wohl nicht nur Kloster, sondern auch Verteidigungsanlage und "Burg" war. Ein großer Innenhof, mindestens 2 Kirchen und die üblichen Klostergebäude. Das unglaubliche an dieser Anlage sind die Tunnel und versteckten Gänge. Die Tunnel verbinden das Kloster mit den umliegenden Dörfern. Das Tunnelsystem ist noch nicht in seiner Gänze erforscht und vermutlich liegen noch mehrere Kilometer Tunnel ohne unser Wissen irgendwo versteckt. Die Verbindungsgänge direkt im Kloster sind gut zugänglich. Ich erkunde die mal mehr und mal weniger engen Gänge und plötzlich stehe ich vor einem Loch in der Wand. Direkt vor mir, ist ein Abhang und die Boden ist mehrere hundert Meter weiter unten. Hui... In den oberen Etage sind an allen Fenstern Pechnasen oder ähnliche Feind-Abschreckungen angebracht.
Sehr spannend ist auch die Gavazan Säule. Das 8m hohe Steingebilde ist nach dem Hirtenstab der Schäfer benannt. Die Säule besteht aus mehreren Lagen aus Stein und reagiert auf jede noch so kleine Bewegung des Untergrunds. Die aufeinander gelegten Steinscheiben verschieben sich gegeneinander, machen Geräusche und weichen von ihrem ursprünglichen Muster ab. Auf diese Weise ließen sich Erdbeben und Invasionen vorhersagen. Eine gelungene Kombination aus Seismograph und Alarmanlage. Sobald die Erschütterungen vorbei sind, sollen die Steine wieder ihre Ausgangslage annehmen.